„Weltkrieg!“ „Paris ändert alles!““Wie soll ich das meinen Kindern sagen?“ Drei repräsentative Schlaglichter vom Wochenende, die irritieren. In welcher Welt lebten die Autor_innen dieser Worte bisher? Doppelhaushälfte in Reutlingen oder Lübeck-Sankt Lorenz? Helmut Kohl ist der ewige Kanzler, die D-Mark stabil? Im Sommer geht’s zum Gardasee, den Hunger in Afrika, die Weltkriege auf deutsche Rechnung oder die Barbereien im Nahen Osten, werden genauso geflissentlich weggelächelt wie die Anschläge der letzten Jahrzehnte in London, Madrid, Bagdad und Beirut? Die Terroranschläge von Paris sind entsetzlich, unentschuldbar. Die Täter handelten menschenverachtend. Das nur vorab, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Paris war am zurückliegenden Freitag eine Hölle.

ABER: Die Kirche ins Dorf! Das war kein Anschlag der Aliens, die morgen früh den gesamten Planeten übernehmen.

ABER: Ehrlichkeit! Verbale und emotional Abrüstung! Ja, erschütternd, aber unsere Emotionen sind Teil des Kalküls.

ABER: Warum  taucht nirgendwo die Frage auf, warum unser die IS-Monster so hassen? Was sind wir in ihren Augen? Und wie können wir Ihnen so erscheinen?

ABER: Warum werden diese schnellen Debatten so geschichtsvergessen geführt? Man muss nur einen Blick auf den Atlas werfen, um zu verstehen, dass wir bis zum Hals drinstecken in dieser Geschichte. Seit Jahrzehnten.

ABER: Wie einfältig sind wir, dass wir nur von Vergeltung, Vernichtung des IS etc. palavern? Welche insgeheime Katharsis-Sehnsucht treibt das Gequatsche von Krieg oder noch besser Weltkrieg an?  Wenn die Frankfurter Allgemeine von Weltkrieg spricht und der Papst gleich von einem Dritten Weltkrieg, dann bin ich mehr als irritiert. Zugegeben, der Terror schlägt weltweit zu. Aber die Vokabel Weltkrieg bzw. Krieg hat in diesem Kontext nur eine Funktion: Alarmismus, Hysterie, Unruhe. Wozu? Wir gehen damit in die Falle, die uns der IS stellt. Wer wie Berthold Kohler einen Artikel über die Terroranschläge mit „Im Weltkrieg“ betitelt, mit den gerade grassierenden Kurzschlüssen zwischen Terrorangriffen und Flüchtlingen hantiert und dann mit dem Absatz unten schließt, handelt unredlich, schamlos und ist am Ende Ausführungsgehilfe derer, die er anklagt.

 

Doch kam auch mit diesen Zügen schon eine Angst ins Land: dass Deutschland sich bei dem Versuch, fremde Kulturen und Konflikte zu integrieren, hoffnungslos übernimmt und danach nicht mehr so sein kann, wie es sein will. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (auch Solidarität mit den Armen und Verfolgten der Welt) sind längst auch deutsche Ideale. Doch noch ein vierter Wert gehört dazu, ohne den alles andere nichts ist – Sicherheit. Die Deutschen haben nichts gegen ein freundliches Gesicht an der Spitze ihrer Regierung. In solchen Zeiten aber wollen und müssen sie ein anderes sehen: ein hartes.

 

Apropos Krieg und Weltkrieg: Blenden wir nur einmal ganz kurz einige Zahlen ein, um Relationen herzustellen: Bei der Erorberung Berlins im Zweiten Weltkrieg verloren in wenigen Monaten ca. 80.000 russische Soldaten ihr Leben. Im gesamten Zweiten Weltkrieg starben ca. 400.000 US-Soldaten. Der Holocaust. 30 bis 40 Millionen zivile Opfer etc. Beim Vietnamkrieg gehen die Zeitgeschichtler von knapp drei Millionen Opfern aus. Kurzum: Wer bei den grausamen Taten von Paris von  Weltkrieg spricht, kann nicht erwarten, dass man den jeweiligen Debattenbeitrag ernst nimmt.

Wir sollten uns dagegen an den viel zitierten norwegischen Regierungschef Stoltenberg halten, der nach den Breivik-Anschlägen im Juli 2011 sagte:

„Unsere Antwort auf Gewalt ist noch mehr Demokratie, noch mehr Humanität, aber niemals Naivität.“

 

Als freie Gesellschaft sollten wir dagegen das tun, was uns stark macht. Das Risiko der Freiheit eingehen. Liebe, Barmherzigkeit und Güte versuchen. Vergeltung führt uns nur tiefer in diese Hölle. Das schließt nicht aus, dass wir die Täter dingfest machen müssen, dass wir Terroristen verfolgen und verhaften müssen. Aber müssen wir dazu in jedem zweiten Satz Kriege heraufbeschwören. Der französischen Präsident irrt (auch wenn man sich ausmalen kann, unter welchem Druck er steht), da schließe ich mich Jakob Augstein auf Spiegel Online zur Abwechselung mal an:

 

François Hollande zog es am Wochenende vor, von gnadenloser Vergeltung und von Krieg zu sprechen. Der französische Präsident besiegelte damit den Erfolg der Attentäter von Paris.

Seit Jahren kommt der Westen im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nicht voran. Kein Wunder: Man kann einen Feind nicht bekämpfen, indem man ihm ähnlich wird. Das ist das Problem mit dem „Krieg gegen den Terror“: wer ihn führt, hat ihn bereits verloren. Die einzige Waffe gegen den Hass ist die Versöhnung. Wohlgemerkt: mit Naivität, das hat der Norweger Stoltenberg richtig bemerkt, hat das nichts zu tun. Im Gegenteil.

 

ABER: Es irritiert mich, wenn eine Autorin auf Spiegel Online lamentiert, dass sie nicht weiß, wie sie dieses Entsetzen ihren Kindern beibringen soll.

Wir als Eltern waren selbst so erschüttert, dass wir uns nicht in der Lage sahen, unserem siebenjährigen Sohn die Angst zu nehmen.Aber ich weiß auch: So etwas geht nur für kurze Zeit gut. Mein Sohn kann lesen. Er sieht im Laden Zeitungen, selbst wenn wir sie zu Hause verstecken. In der Schule wird er über die Ereignisse in Paris von anderen Kindern hören, deren Eltern mit ihnen darüber gesprochen haben. Und er wird dann Fragen stellen. Es bricht mir das Herz, dass er erfahren wird, dass Menschen, wie die Terroristen in Paris, etwas so Entsetzliches tun.

 

Ja, klar ist das entsetzlich, aber ist es tatsächlich so neu? Als wären die Anschläge von Paris singulär und bis dahin hätten wir in einer intakten Welt gelebt. Die Frage ist nicht, wie ich diese Anschläge erkläre. Die Frage ist, wie ich meinen Kindern diese Welt erkläre. Wie ich ihnen erkläre, was ich in dieser Welt tue und wie ich das vertreten kann.

ABER: Das anhaltende Lamento von persönlichem Schock und persönlicher Erschütterung irritiert mich. Klar, jeder denkende und fühlende Mensch  begreift, welcher Abgrund sich da am Freitag aufgetan hat. Aber lässt sich persönliches Entsetzen über Stunden, Tage konservieren? Aus der wohlig-warmen Distanz des deutschen Wohnzimmers? Der von mir sehr geschätzte Martin Giesler begrüßt mich heute früh im Newsletter des Socialmediawatchblogs mit:

 

Die Terroranschläge in Paris haben mich persönlich zutiefst erschüttert. Ich hatte Freitagabend während des Freundschaftsspiels #FRAGER spontan begonnen, für bento über die Geschehnisse zu twittern. Bis morgens um 4:00 Uhr haben mich die Ereignisse nicht losgelassen. Und auch die beiden darauffolgenden Tage waren vom blanken Entsetzen geprägt. 

 

Mir ist das zu viel. Ich wünsche mir verbale und emotionale Abrüstung, weniger Panik, weniger Betroffenheit. Zumindest in öffentlichen Artikulationen. Mehr Klarheit ist gerade jetzt nötig.

Und: Teil der Wirklichkeit ist auch, dass wir längst gelernt haben, mit den Schocks zu leben. Nein, sogar schon immer mit diesen Schocks leben konnten.  Das Unglück ist immanent. Fukushima, NSU, Vietnamkrieg, Irakkriege, 9/11. Trotzdem ist ein Leben in Freiheit möglich. Es ist nur anstrengend.

ABER: Es irritiert mich, wenn in der Journalisten-Branche am Freitagabend bei vielen ein Selbstverteidigungsreflex zu beobachten war. „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ war vielfach bemüht. Dem muss in einer Hinsicht entschieden widersprechen. Geschwindigkeit ist ein wichtiger Faktor. Ob wir wollen oder nicht. Gerade öffentlich-rechtliche Sender müssen sich dieser Herausforderung stellen. Auch die Kritik an der Kritik irritiert mich. Viele haben am Freitag zu Recht massive Kritik insbesondere an der ARD-Berichterstattung geübt. Mir erschien es wie die Spekulation auf den billigen Distinktionsgewinn: Schaut her, bin eine Ebene höher unterwegs und auch noch ein empfindsamer Charakter, der mit Blick auf diesen tiefen Schock nicht auf das erstbeste Ziel eindrischt.

Die ARD hat am Freitagabend eben kein Glanzstück aktueller Berichterstattung hinglegt. Sie hat die ganz offenbar überforderten Sportreporter allein gelassen, hatte allem Anschein nach keine festgelegten Abläufe im Krisenfall. Wenn die gut ausgestattete ARD drei Stunden benötigt, um einen  aktuelle Strecke aufzubauen, ist das zu lang. Die Geschwindigkeitsanforderungen sind heute eben hoch. Es ist notwendig, damit einen Umgang zu finden. Transparent, Kuration anderer Quellen etc. Ein prozessualer Umgang mit der eigenen Informationssuche wäre eine von vermutlich mehreren Alerenativen gewesen. Und es ist m.E. eher ein Indiz für Verunsicherung und Druck, wenn sich der ARD-aktuell Chefredakteur vier Tage später anlässlich einer Podiumsdiskussion ungefragt verteidigt und davon spricht, dass  sie alles richtig gemacht haben und er sehr zufrieden ist.

 

Und mein erster Befund ist schon mal: ein Terroranschlag und die Berichterstattung darüber sind kein Rattenrennen und sie sind kein Schönheitswettbewerb. […] und es wird Sie möglicherweise nicht wundern, ich bin sehr zufrieden, mit dem, was wir gemacht haben.

Es ist kein Rattenrennen (was für ein Vergleich?). Aber Geschwindigkeit ist wie gezeigt ein Faktor. Und am Freitag waren viele schneller. Die Öffentlich-rechtlichen Infostrecken müssen sich dieser Herrausforderung noch deutlicher stellen.  Online, aber auch in den linearen Programmen. Hier fehlt mir der souveräne Umgang mit dem Netz in den on Air Gefäßen. Der Bedarf ist da, dass Tagesschau & Co noch stärker zu Lotsen im Netz werden. Gerade in solchen Krisenmomenten.

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Nach 1989 haben sich nicht alle Träume vom weltumspannenden westlich-marktwirtschaftlichen Paradies auf Erden erfüllt. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Ostdeutschen sind plötzlich in einem Haifischbecken wachgeworden,  von dem sie dachten, dass  es ein Pool auf dem oben angesprochenen Mallorca ist. Viele Westdeutsche leben immer noch unter dem Eindruck ihrer Kindheit und Jugend in der Reihenhaushälfte. Aber leider ist die Welt ein ziemliches Chaos. Nur dass wir das Glück haben, in dem halbwegs friedlichen Teil zu leben. Und zwar wie die Maden im Speck. Aber die Dämonen, die wir über Jahrzehnte, ja eigentlich Jahrhunderte gezüchtet haben, werden lauter. Es sind die Opfer ein rücksichtslosen und meistens planlosen

 

 

Foto: Flickr, CC, Victorsu