Erlösung ist ein großes Wort. Und uralt. Aber genauso fühlt sich Rennradfahren an. Uralt. Und wie Erlösung.
Es ist die Bewegung der Oberschenkel am unteren Rand des Gesichtsfelds. Vorne die Straße. Grau. In den wechselnden Körnungen des wechselnden Asphalts. Hell, dunkel, grob, Fein. Schlagloch. Hell, grob. Pfütze. Dunkel, fein. Blätter. Immer so weiter. Rechts Kühe, links ein LKW. Viel zu nah. Aber die Oberschenkel immer im gleichen Rhythmus. Raufrunter. Raufrunter. Raufrunter. Der ganze Körper ein einziger Kolben. Die Atmung verbrennt mit dem eingeatmeten Sauerstoff die Energie. Und die Gedanken. In den tiefsten Momenten ist Rennradfahren keine Sportart, sondern ein Zustand.
Ich fahre noch nicht lange Rennrad. Aber mit großer Begeisterung (eigentlich ist es Fanatismus). Nach Fussball von 10 bis 20, Schwimmen von 20 bis 30 und Laufen von 30 bis 40 ist jetzt offenbar seit einiger Zeit das Rennradfahren mein Weg zur Erlösung. Der Exit aus bürostuhlsitzen, rechneranstarren, inmeetingsrumhängen und telefonieren. Angewandte Metaphysik auf zwei Rädern. In aller Bescheidenheit.
Durch Berlin, über die märkischen Dörfer, entlang der Seen in Brandenburg oder des Rheins in Köln, der Elbe in Dresden oder ins Sauerland. Rennradfahren geht immer. Der Rausch funktioniert. Die Kombination aus Geschwindigkeit, Landschaft, Rhythmus, Schmerz, Erschöpfung, Endorphinen, Serotonin und Adrenalin (beim Wettrennen mit dem Bus über den 17. Juni in Berlin…).
Wenn ich mit der monströsen Rennradtasche aus dem ICE steige und Hotels betrete, ernte ich regelmäßig irritierte Blicke. Noch ratloser werden die Hotelgäste und -mitarbeiter, wenn ich dann im Winter als Hilfsastronaut mit Helm, Brille, Sturmhaube und Rad auf der Schulter aus dem Fahrstuhl steige. Aber ich kann es nur empfehlen – vor Meetings, auf Konferenzen, nach Workshops – zwei Stunden Hochgeschwindigkeitsrennrad und man ist wieder ein Mensch. Atmung, Gerüche, innere Ruhe. Der Körper erinnert dann mit einem Augenzwinkern beim Treppensteigen an den langsamen Verfall und das heitere Aufbäumen dagegen.
Ehrlich gesagt – wenn ich der Bestimmer wäre – würde ich Rennradfahren gerne zur Bürgerpflicht erklären. So wie Wählen oder Medienkompetenz. Aber Bestimmer gibt’s ja bei uns nicht mehr. Vielleicht auch nicht so schlecht. Yoga und Rennen sollen ja angeblich auch gut tun.
P.S.: auf Strava gibt’s mich natürlich auch
Steffen Jauch sagt:
Hallo Markus,
da hast du die Emotionen sehr schön getroffen. Die besondere Verbindung von Fortbewegung per Muskelkraft, Geschwindigkeit, Naturerlebnis und das überwinden eigener Grenzen ist wohl so nur beim Rennradfahren zu erleben.
Der Kopf schaltet aus, der Körper funktioniert ohne ein Kommando. Tiefe Erholung stellt sich ein. Kein Telefon, Email oder Twitter stört diese Art der Meditation.
Nicht ohne Grund boomt das Rennrad in Dschtl. unter Denkarbeitern als Ausgleich.
Bin gespannt, wenn du von deiner ersten Bergetappe berichtest.
Viele Grüße in die Kooperative
Steffen
2. Juni 2015 — 12:53
Markus sagt:
Hi Steffen, da ich ja mein Blog nicht wirklich gut pflege, sehe ich gerade jetzt erst, dass Du hier ja auch kommentiert hast. Danke! Die erste Bergetappe habe ich auch schon seit Längerem hinter mir. Neben Sauerland, Siebengebirge und Erzgebirge so nebenbei natürlich dden König der Bergpässe – Stilfser Joch. 2015 und 2016. Viel, sehr viel gelernt. Vllt. schreibe ich dazu auch mal. Die Analogie einer Bergetappe und des Lebens…
14. November 2016 — 9:15
Alexander Peters sagt:
Das Fahrrad ist ein Geschenk Gottes, daran besteht kein Zweifel.
Deshalb schrieb ich auch einst ein Gedicht darüber:
Ich fahre über Land
Der Mond mit mir
Die Reifen singen
das Lied vom Asphalt.
Ich sammle Abendluft
aus den Feldern
Der Wind kämmt das Gras
schmückt es für die Nacht
Das Korn rauscht
wie eines Traumes Nachtschatten
wogt
so hin so her
so sehr
so sehr
Als käme hier der Mond auf Erden
9. Juni 2015 — 21:53